Auch wenn ich den Kollegen Fritz so sehr schätze wie eine frische Tüte Pommes nach einer langen Zugfahrt, war mir selten so egal, dass er recht hat. Neulich meinte er nämlich, Ghost of Tsushima sei Open-World-Design von 2010. Und das stimmt. Nicht technisch gesehen natürlich, aber der Aufbau der Spielwelt und die Aktivitäten darin legen den Schluss nahe, dass der Entwickler Sucker Punch mit einer Zeitmaschine zehn Jahre zurückgereist ist, um bei Assassin's Creed abzugucken.
Was ich abseits der Haupthandlung auf der Insel Tsushima anstellen und erleben kann, folgt nämlich einfachen Formeln, ständigen Wiederholungen und Fragezeichen. Ja, es gibt immer noch eine Übersichtskarte mit abstotterbaren Hotspots, da kann sich Sucker Punch noch so sehr rühmen, das Interface minimiert zu haben (was wir uns gleich noch genau anschauen).
Und während etwa Red Dead Redemption 2 hinter jedem Karten-Fragezeichen eine kleine Quest-Geschichte verbirgt, reduziert Ghost of Tsushima die Hotspots oft auf Mechanik. Ich bete an Schreinen, zersäble Bambusstämme, bade in heißen Quellen, fackle Holzfällerlager ab - nicht, um etwas Erlebenswertes zu erleben, sondern um Charakterwerte zu verbessern: mehr Entschlossenheit, mehr Leben, mehr Skillpunkte. Kennt man ja.
Auch die in der Welt (also außerhalb der Hauptstory) auffindbaren Nebenquests verharren meist in Klischees. Diebe verfolgen und umbringen; mongolische Bogenschützen erledigen, um Zivilisten von einer Brücke zu retten; andere Diebe verfolgen und nicht umbringen, weil sie eigentlich nett sind. Einen Originalitätsakzent setzen die Legenden-Quests, in denen ich der Ausrüstung berühmter Samurai nachspüre, einleitende Tusche-Zwischenfilmchen und abschließende Bosskämpfe inklusive.
Insgesamt dürfte all das weit weniger Spaß machen, als es tatsächlich macht. Oh, und bevor ihr euch wundert, dass der Graf über ein PS4-Spiel schreibt: Erstens weiß ich von Umfragen und den geheimen Kameras, die ich in euren Wohnzimmern installiert habe, dass die PlayStation die mit Abstand beliebteste Zweitplattform der GameStar-Besucher ist.
Und zweitens geht das Thema über Ghost of Tsushima hinaus. Gutes Open-World-Design ist etwas, dem aktuell viele Entwickler hinterherlaufen, und zugleich etwas, nach dem sich viele Spielerinnen und Spieler sehnen. Nicht umsonst war unser Podcast zur Zukunft der Open World der am zweitmeisten gehörte des Jahres 2019 (mit sehr knappem Rückstand auf World of Warcraft, aber das ist ja auch irgendwie Open World).
Bedeutet das nun, dass Ghost of Tsushima wie viele andere Spiele am Open-World-Zwang zerbricht? Dass dem »japanischen Assassin's Creed« eine kompaktere Spielwelt oder sogar eine lineare Story-Kampagne gutgetan hätte? Eben nicht, zumindest nicht für mich.
Denn Ghost of Tsushima gelingt trotz seiner veralteten Designdenke etwas, an dem andere Open-World-Titel scheitern: Es ermuntert mich dazu, in diese Welt einzutauchen. Davon können andere Entwickler lernen - außer von einer Sache, die ich überhaupt nicht verstehen kann.
Der Autor
Nachdem seine bereits gebuchte Japanreise dieses Jahr an den Corona-Beschränkungen zerplatzt ist, begrüßt Michael Graf umso mehr die Gelegenheit, das Land der aufgehenden Sonne virtuell zu bereisen - auch wenn Ghost of Tsushima im 13. Jahrhundert spielt, ein Besuch in Akihabara bleibt damit aus. Oder überhaupt auf den japanischen Hauptinseln, das Eiland Tsushima liegt ja zwischen Japan und Korea. Zum Schreiben hört Micha übrigens den Soundtrack von »Attack on Titan«, weil er aktuell in Mainstream-Animes reinschaut.
Story? Was ist das?
Natürlich hat Ghost of Tsushima eine klassische Haupthandlung, die mich durch die Welt führt. Oder führen sollte, wenn ich sie ließe. Die Kurzfassung: Die Mongolen überfallen die Insel Tsushima und massakrieren die örtliche Armee, als überlebender Samurai pirsche ich wie ein Geist (daher der Titel) über das Eiland, um Mongolen zu jagren, verstreute Verbündete zu versammeln und das Land zu befreien.
Es geht um typische Samuraithemen wie Treue, Ehre, Verrat, noch mehr Ehre und einen gewissen Widerspruch zwischen »das Volk regieren« und »vom Volk geliebt werden«. Der Fürst - mein eigener Onkel - betont zwar Pflichtgefühl und ehrenhaften Kampf (»Sieh dem Gegner ins Gesicht!«), hat aber zugleich diverse Rebellionen niedergestampft, was ihn bei manchen Einwohnern Tsushimas so beliebt macht wie eine Maus in der Kornkammer. Zum äußeren Konflikt mit den Mongolen kommt daher mein innerer Konflikt darüber, was der Kodex der Samurai überhaupt bedeutet, wenn Ehre nur noch mehr Blutvergießen heißt.
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