Fangen wir mit einem Widerspruch an. Kingdom Come: Deliverance erinnert uns im Test frappierend an Gothic, obwohl es sich eigentlich als das genaue Gegenteil der Piranha-Bytes-Rollenspiele verkauft. Die Unterschiede sind dabei viel offensichtlicher als die Gemeinsamkeiten: Kingdom Come verzichtet in Gänze auf Fantasy-Kram wie Magie, Drachen oder Orks. Statt durch düstere Ruinen voller Untoter zu stapfen, erkundet man einen mittelalterlichen Landstrich Böhmens.
Außerdem wird deutlich weniger gekämpft als in Gothic oder Elex. Trotz des rauen Szenarios ist Kingdom Come eher ein Spiel des Geistes als eines Schwertes. Und anders als viele Fantasy-Helden kann unsere Spielfigur Heinrich auch keine mehrtägigen Power-Märsche hinlegen, wenn er dabei Essen sowie Schlafen vergisst.
Technik-Check:Wie flüssig läuft Kingdom Come: Deliverance?
Doch wir bleiben dabei: Kingdom Come hat viel Ähnlichkeit mit Gothic, Elex und Co., beispielsweise in seiner größten Stärke: Fast alles in Deliverance ordnet sich dem Ziel unter, eine lebendige Open World zu erschaffen. Und das gelingt. Von den derben Dialogen über den geregelten Alltag der Menschen bis hin zum glaubhaften Landschaftsdesign der Spielwelt - die Atmosphäre von Kingdom Come ist ein Brett! Und hey, man kann sogar Wildschweine jagen gehen.
Aber wer die Vorzüge von Warhorses Mittelalter-Rollenspiel voll auskosten will, wird dem Spiel - wie bei Gothic und Elex - viele Ecken und Kanten verzeihen müssen, beispielsweise in der erzählten Geschichte.
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Mittel zum gelungenen Zweck
Die Story von Kingdom Come: Deliverance ist Mittel zum Zweck. Klingt vielleicht im ersten Moment hart, allerdings erreicht die Geschichte ihr Ziel mit Bravour: Schmiedesohn Heinrich wird im Zuge katastrophaler Ereignisse aus seinem Heimatdörfchen Skalitz quer durchs böhmische Land und damit auch durch alle großen Bereiche des mittelalterlichen Lebens geschickt.
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Wir erleben als Spieler das rege Handelstreiben im Städtchen Rattay, tauchen ein in die schmucklose Routine eines Benediktinerklosters in Sasau, wildern in den Wäldern, erkunden Steinbrüche und Bergbaustollen, begutachten den Bau mittelalterlicher Belagerungsgeräte, bekommen ein Gefühl für all die aufblühenden Handwerkszweige des 15. Jahrhunderts. Schmiede, Bäcker, Wirte, Bader, Jäger, Spieler, Scharlatane und hussitische »Revoluzzer-Priester« - allein in der 30- bis 40-stündigen Hauptquest bleibt kaum ein Bereich unerschlossen.
Heinrich muss sich um kriegsversehrte Flüchtlinge kümmern, erfährt die Furcht vor Pest, Aberglaube und bösen Hexen am eigenen Leib. Er erlernt das Rüstzeug eines Ritters, prügelt sich trotzdem unritterlich hinter der Taverne und, und, und.
In einer Open World in so viele Bereiche einer virtuellen Gesellschaft einzutauchen, erschafft ein unglaublich dichtes Mittendrin-Gefühl. Der Preis, den das Spiel dafür zahlt, schlägt sich im eigentlichen Plot nieder: Die erzählte Geschichte ist eine ziemlich seichte, konventionelle Heldenreise.
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Test-Update
Mittlerweile sind einige Patches für Kingdom Come: Deliverance erschienen, die Teile dieses Testartikels (vor allem die Passagen zu Bugs und Performance-Problemen) veraltet werden lassen. Deshalb haben wir einen umfangreichen Nachtest zu Kingdom Come durchgeführt, den ihr als Ergänzung zu diesem Review hier unbedingt lesen solltet.
Bodenständige Heldenreise
Ja, Kingdom Come verzichtet aufs hochtrabende Super-Epos eines auserwählten Ritters, der im Alleingang die Welt rettet. Finden wir auch klasse. Man ist ein winziges Zahnrad in einem viel größeren Adelskonflikt, dessen Ausmaße sich auch erst nach dem Abspann im Epilog vollends entfalten.
Dadurch gewinnt die Kampagne spürbar an Glaubwürdigkeit. Aber auch im »kleinen Format« lassen sich spannende und innovative Geschichten erzählen - hier schöpft Deliverance sein Potenzial viel zu selten aus.
Heinrich mausert sich vom harmlosen Jüngling zum hartgesottenen Krieger, kommt dabei einer großen Verschwörung auf die Schliche und hangelt sich in der Kampagne von einem Strohmann zum nächsten. Das kulminiert in einigen wunderbar inszenierten Schlachten, und bietet gelegentlich sehr unterhaltsame Momente (beispielsweise ein Besäufnis mit einem Pater).
Trotzdem fehlen der Story spannende Wendepunkte - der einzige große »Plot Twist« gegen Ende der Kampagne wird dem Spieler fast schon nebenbei um die Ohren gehauen und sorgt eher für verwirrtes Stirnrunzeln.
Auf ein Wort:Sprachvergleich der englischen und deutschen Fassung
Die Schurken der Geschichte bleiben durch die Bank eindimensional und rekrutieren sich aus den Kategorien »mörderischer Halunke«, »geldgieriger Nimmersatt« und »Ich kann nichts dafür, ich werde erpresst«. Starke Nebenfiguren wie Heinrichs Mitbewohnerin Theresa, der wappenlose Ritter Ulrich, der hussitische Pater Goswin oder Erzrivale Hans Capon bekommen nur sporadisch ihr eigentlich verdientes Story-Rampenlicht und verschwinden dann enttäuschend unvermittelt wieder aus dem Geschehen. Immerhin: Es gibt einige Nebenquests, mit denen man seine Beziehungen zu den Figuren vertiefen kann.
Rassismus-Vorwürfe: Im Vorfeld zum Release wurden via Blog- und Social-Media-Einträgen Vorwürfe gegen Daniel Vavra laut, die ihm unterstellen, in Kingdom Come: Deliverance rassistisches Gedankengut zu verbreiten. Wir haben in unserer ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Thema beide Seiten zu Wort kommen lassen - im eigentlichen Spiel sind uns allerdings keine heiklen Auffälligkeiten begegnet, die Kingdom Come von anderen Rollenspielen unterscheiden. Doch da wir solche Hintergründe als Spieler natürlich nicht so tiefgreifend einordnen können wie ausgebildete Historiker, haben wir einen umfangreichen Report mit Experten angefertigt, der das Spannungsfeld zwischen Geschichtsdarstellung und Verklärung beleuchtet.
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